Wenn Kinder nerven – Kinder als Seelenspiegel der Eltern

Ich bin kein Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, muss in meiner Arbeit mit erwachsenen Patienten aber oft mit deren Kind-Anteilen umgehen und auch für die Probleme im Umgang mit ihren Kindern Lösungen erarbeiten. Die Beschäftigung mit Kindern, der Blick auf deren Verhaltens- und Denkmuster und ein angemessener Umgang damit gehört also zum Alltag meiner Arbeit.
Dabei entdecke ich – oft mit Erstaunen, manchmal mit Erschrecken – wie tiefgehend die Verflechtungen zwischen Kindern und Eltern sind. Für Kinder ist es offenbar selbstverständlich, sich mit ihrer Psyche zutiefst mit der der Eltern zu verstricken und ihr Möglichstes zur Entlastung der Eltern beizutragen. Natürlich tun das die Kinder nicht bewusst, sie machen es einfach, weil es offenbar zu unserer Grundkonstruktion als Mensch dazu gehört. Familien sind demzufolge keine zusammengefügten Einzeleinheiten, sondern ein Gesamtorganismus, aus dem sich einzelne Einheiten abheben.

Kleiner Exkurs: Um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich hier Spirituelles zum Besten geben möchte, mache ich vorab einen kleinen Exkurs, zum Thema „leibliche Resonanz“. Damit ist das gemeint, was man als Mensch in seinem Körper von einem Gegenüber wahrnehmen kann. Auch das ist nichts Spirituelles, sondern etwas was beständig geschieht. Ende des letzten Jahrtausends wurden die dazugehörigen Neuronen in unseren Köpfen entdeckt (Spiegelneuronen), deren Aufgabe einzig darin liegt, anhand von Mimik, Gestik, Stimmmodulation, Haltung, Bewegung und Bewegungsdynamik unserer Gegenüber zu erfassen, was diese gerade fühlen, vielleicht denken und wie sie zu uns stehen. Das dient auch dazu, möglichst schnell herauszubekommen, ob sie für die eigene Person gefährlich werden können. Aber auch das andere, das Miteinander, wird hier beständig geprüft. Das alles passiert, ohne dass wir es bewusst mitbekommen – man kann aber einiges davon auch bewusst erfassen.

Leibliche Resonanz: Vor vielen Jahren habe ich mich mit dem Thema eingehender beschäftigt und auch die Abschlussarbeit meiner Psychotherapie-Ausbildung darüber geschrieben. (Hier geht es zu dieser Arbeit: http://www.psychotherapie-birkenwerder.de/fachinfo/gegenueb-z.htm) Damals habe ich mich darin geübt, meine leibliche Resonanz – also meine unterschwellige, unbewusste Reaktion auf andere Menschen in meiner Nähe – bewusst zu erfassen. Dabei habe ich die interessante Beobachtung gemacht, dass ich in meinem eigenen Körper vor allem das besonders deutlich spüren konnte, was sich im Körper meines Gegenübers abspielte, von diesem aber nicht zugelassen, sondern unterdrückt, verboten und verdrängt wurde. Die unterdrückte Traurigkeit, der festgehaltene Zorn, selbst die nicht zugelassene Fröhlichkeit bildete sich in meinem Körper klar und deutlich ab. Erst wenn ich mein Gegenüber darauf aufmerksam machte, ihn oder sie dazu anregte, diese Gefühle doch zuzulassen, verschwand die Resonanz in meinem Körper.

In den Kindern schwingen die Themen der Eltern

Hier beende ich meinen kleinen Ausflug in die leibliche Resonanz und möchte zu den Kindern zurückkehren. Vielleicht haben Sie schon beim Mitlesen verstanden, wo ich hin will. Kinder haben ganz selbstverständlich einen dichten körperlichen Bezug zu ihren Eltern. In ihnen schwingt auch das, was sich in den Eltern abspielt.

Schauen wir auf ein Beispiel:
Eine Patientin, die schon lange mit der viel zu großen Belastung durch Arbeit, Partner, Haushalt und Familie hadert, darunter leidet und längst hätte eingreifen müssen. Was spielt sich in ihr ab? Vielleicht ein Kampf zwischen Funktionieren müssen und nicht mehr wollen. Weil sie aber weiter funktioniert, weil sie überzeugt ist, keinen anderen Ausweg zu haben, nimmt sie diesen Kampf nicht wahr, verdrängt und unterdrückt ihn. Was macht das im Körper/in der Seele ihres Kindes? Ganz einfach: es drückt sich darin aus. Was präsentiert ihr also das Kind: in diesem Fall kämpft das Mädchen gegen die auferlegten Pflichten, wehrt sich, pocht auf persönliche Freiheiten und ihre privaten Bedürfnisse.

Wie erlebt die Mutter dieses tägliche Ringen mit der Tochter, die nicht funktionieren will? Doppelt belastend. Weil in ihr der eigene Kampf berührt wird, ist sie gleichzeitig (unbewusst) solidarisch mit dem Aufbegehren der Tochter und zutiefst verzweifelt über die zusätzliche Belastung, die dadurch entsteht.

Ein anderes Beispiel:
Ein Paar, die beide das Problem haben, eigene Bedürfnisse zu spüren und denen gemäß zu handeln. Beide sind sehr fleißige, pflichtorientierte Menschen, geübt darin, eigenes zurückzustellen und vor sich selbst und anderen zu verbergen, was sie tatsächlich wollen. Beide machen schon eine Weile Therapie, haben schon einige Fortschritte gemacht, aber im Miteinander, fallen sie noch regelmäßig zurück in alte Muster. Auch in ihnen regt sich der Wunsch nach mehr Freiheit, danach mehr Raum für Lust (Sexualität), Ruhe und Gelassenheit zu haben.
Wer aufmerksam mitgelesen hat, weiß schon was kommt. Klar, dass ihnen ihre Kinder genau an der Stelle auf der Nase herumtanzen, an der sie von ihnen zu funktionieren und das Hineinfügen in Notwendigkeiten abverlangen. In dieser Familie ist es das abendliche Ritual des Zubettgehens, welches regelmäßig entgleist und immer wieder in hilfloser Wut und Verzweiflung der Eltern endet.

Was kann man tun?

Der erste Schritt ist, die Handlungen der Kinder nicht als deren bösen Willen zu interpretieren und entsprechend – vermeintlich berechtigt – auf denen herum zu hacken, sondern das Handeln der Kinder als Hinweis auf die eigene Person zu verstehen.
Wenn sich in dem, was Ihnen Ihre Kinder als Szene vor Augen halten, auch etwas von der eigenen Person zeigt, dann hilft es, mal genau hinzuschauen.

Um was für ein Thema dreht sich die Szene vor allem. In beiden eben genannten Beispielen ging es um Grenzen, im ersten Beispiel auch deutlich unterstrichen um Freiheit für eigene Bedürfnisse, im zweiten Beispiel um die vermeintlich notwendigen Grenzsetzungen, weil Kinder eben so und so lange schlafen müssen. Also Grenzen, die irgendwie notwendig scheinen, aber nicht unbedingt mit den eigenen Bedürfnissen übereinstimmen. Wenn Sie ein ungefähres Thema herausgefunden haben, sollten Sie sich fragen, was Sie mit diesem Thema in Ihrem eigenen Leben gerade zu tun haben. Wo sollten Sie sich vielleicht mal genau wie Ihr Kind zeigen? Auf der Arbeit? Gegenüber dem Partner? Sie gegenüber sich selbst?

Das muss jetzt nicht bedeuten, dass man alles hinnimmt, sich schweigend von den Kindern zurückzieht und die eigene Person geißelt. Da vieles von dem, was sich hier ausdrückt, unbewusst ist, nutzt die Selbstreflexion in manchen Fällen auch überhaupt nichts. Dennoch hilft es, zu wissen, dass die Kinder oft gar nicht anders können.

Miteinander reden!
Eine Lösung könnte es sein, sich mit den Kindern an den Tisch zu setzen und das Problem mit denen gemeinsam zu bereden. Man lässt dabei einen Gegenstand herumgehen, und nur wer den hat, redet. Gibt es im Kreis jemanden, der gerne zu viel redet, liegt noch eine Uhr dabei, und die vereinbarte Redezeitbegrenzung wird damit kontrolliert. Will einer nicht reden, wird während seiner Redezeit eben gemeinsam geschwiegen. Ohne Vorwurf! Mindestens zwei Durchläufe sind notwendig, in denen jeder zumindest Stellung dazu bezieht, wie er/sie die Situation erlebt und was er/sie sich als Lösung wünscht. Danach müssen auch noch Kompromisse verhandelt werden. Gut wäre es, am Ende einen Vertrag zu haben, die in jeder unterschreibt, das geht auch mit einem Fingerabdruck.

Lassen Sie sich nicht vom Alter ihrer Kinder davon abhalten, so eine Konferenz einzuberufen. Auch ein dreijähriges Kind kann durchaus deutlich machen, unter was es leidet und was es braucht. Wenn das noch nicht über Sprache geht, kann man sich auch hinsetzen und mit dem Kind Familie spielen. Entweder mit Puppen/Stofftieren/Spielfiguren oder leibhaftig. Tauschen Sie doch mal die Rollen. „Du bist jetzt Papa/Mama und ich bin jetzt Kind“.

Nachtrag:
Alle Erwachsenen waren irgendwann mal Kinder und haben vielleicht jahrelang mit dem gelebt, was die Eltern in sich unterdrückt hatten. Daraus kann durchaus ein Auftrag für das eigene Leben geworden sein. Vielleicht hatte man eine Mutter, welche ihre Ausbildung nie zu Ende gemacht hat und einem somit unbewusst den Auftrag erteilt hat, auf jeden Fall eine Ausbildung fertig zu stellen. Vielleicht ist sogar eine ganz bestimmte Ausbildung, hier als Auftrag transportiert wurde. Dann muss man nachher Lehrerin, Tierärztin, Beamtin oder sonst irgendetwas werden, weil es Mutter nicht geworden ist. Man wird es dann später auch, wird in diesem Beruf aber nie wirklich glücklich, weil man Eigenes unterwegs aus dem Auge verloren hat. Das Verdrängte/Unterdrückte der Anderen kann sehr massiv und bestimmend Raum in der eigenen Person einnehmen, bleibt dennoch etwas Fremdes.

Kinder übernehmen eine heilende und entlastende Funktion

Und dann gibt es da auch noch eine ganz andere Seite: Kinder übernehmen auch eine heilende und entlastende Funktion für die Familie. Diese Aufgabe übernehmen Sie dann, wenn die Eltern das nicht selbst genug für sich tun, sich also um die eigene Heilung, die eigenen Probleme, die eigene Reifung ihrer Person nicht hinreichend kümmern. Das können psychische Probleme eines oder beider Eltern seien, es können auch die Paar-Probleme der Eltern sein. Da die Kinder keine Alternative haben, insbesondere wenn sie noch jünger sind, tun sie alles, was in ihrer Macht liegt, um hier einzugreifen.

Leider gibt es Eltern, die diese Hilfeangebote der Kinder gerne annehmen und sich damit ein leichteres Leben machen.

Einfaches Beispiel: Ein Vater hatte selber als Kind gelernt, niemals schuldig sein zu dürfen, also keine Fehler zu machen, nie unangenehm aufzufallen, immer alles richtig machen zu müssen und so weiter, weil er ansonsten massiv abgestraft worden war. Diesen Mann versetzt es sein Leben lang in einen Stressmodus, wenn irgendwie im Raum steht, dass er einen Fehler gemacht hat. Sofort wird er alles dafür tun, alles zurückzuweisen, seine Unschuld zu beweisen et cetera. Für so einen Vater ist es ungeheuer entlastend, ein Kind zu haben, auf welches er die Rolle des Schuldigen schieben kann. Ein Kind lernt schnell, so eine Zuweisung anzunehmen und wird dann im Laufe der weiteren Geschichte konsequent und immer wieder versagen, nicht ausreichen, die Dinge falsch machen, eben den Kopf hinhalten, um den Vater zu entlasten.

Allen Beteiligten wird das im schlechtesten Fall niemals bewusst. Manche Patienten, die solche Rollen übernommen hatten, schauen dann Jahrzehnte später entsetzt auf die weitreichenden Konsequenzen, die so etwas nach sich zieht. Kinder, die das eigene Leben opfern, den eigenen Eltern ein Klarkommen mit der eigenen Psyche zu ermöglichen. Natürlich tun sie das nicht in erster Linie für die Eltern, sondern für sich selbst, beziehungsweise für die Familie, aber sie können nicht anders, weil sie von diesen Eltern abhängig sind.

Na, nachdenklich geworden? Ist bei Ihnen auch ihr Kind immer an allem schuld? Sind Sie überzeugt, einen Versager aufgezogen zu haben, einen Nichtsnutz? Dann sollten Sie hellhörig werden, hier läuft etwas gewaltig schief. Kein Kind ist von Hause aus nicht wert, unzulänglich, fehlerhaft usw. Immer sind es die Eltern, die die tatsächlichen Möglichkeiten eines Kindes nicht sehen, sondern ihre Projektionen darüberstülpen.

Das Hauptproblem an diesem Geschehen: Eltern, die davon betroffen sind, werden solche Zeilen nicht lesen oder wenn sie es doch tun, diese auf keinen Fall auf sich selbst beziehen.

Kommen Sie gut durch diese schwierigen Zeiten, bleiben Sie gesund und lassen Ihren Frust nicht an den Kindern aus.

Das Bild stammt von mohamed Hassan auf Pixabay.com, vielen Dank dafür