Warum die meisten Menschen ein intensives positives Gefühl nur Bruchteile von Sekunden zulassen.
Es gibt ein einfaches und für jeden verfügbares Mittel für ein gesundes und langes und vor allem gutes Leben: Es sind positive Gefühle. Je mehr man davon lebt, umso besser geht es einem. Körperlich und psychisch. Man fühlt sich besser und erlebt sein Leben als sinnvoll und lebenswert.
Warum nutzen die meisten dieses Potential so wenig? Viele argumentieren mit zu wenig Zeit, zu vielen Aufgaben und schlechten Gewohnheiten. Getragen von der Überzeugung, dass sie frei sind, etwas daran zu ändern. Aus meiner Sicht ist das ein Irrtum. Denn die vielen Aufgaben und Ablenkungen sind nicht der Grund, warum Menschen das Potential von positiven Gefühlen so wenig nutzen. Das liegt vielmehr an der Konstruktion unserer Psyche. Darin gibt es einen Mechanismus, der die positiven Gefühle klein hält. Schon nach wenigen Sekundenbruchteilen wird das gute Erleben unterbrochen oder zumindest deutlich verringert.
Eigentlich soll dieser Mechanismus nur verhindern, dass sehr unangenehme Erfahrungen noch einmal erlebt werden müssen. Dass sich das auch auf positive Gefühle auswirkt, hat mit der Art zu tun, wie negative Erfahrungen im Gedächtnis abgespeichert sind. Diese Speicherung kann man zum Beispiel in meinem Arbeitsfeld, der psychotherapeutischen Traumatherapie, immer wieder gut erkennen. Es zeigt sich darin, dass Menschen, die sich gerade an eine sehr unangenehme Erfahrung erinnern, auch sehr schnell und sehr genau beantworten können, was Ihnen während des belastenden Geschehens gerade am meisten gefehlt hatte.
Schauen wir als Beispiel auf Sarah:
Sahra ist eine 40jährige Frau, die sich in der Therapiesitzung gerade daran erinnert, wie schmerzhaft es für sie als Vierjährige war, wieder einmal nicht die Aufmerksamkeit der Mutter zu bekommen. Sie braucht nur wenige Augenblicke in der unangenehmen Erinnerung zu verweilen, um dann genau zu benennen, was sie damals gebraucht hätte. Bei ihr war es die ungeteilte, zugewandte und interessierte Aufmerksamkeit ihrer Mutter für das, was sie als Kind gerade erlitt. Sarah hatte sich schon als Kind gewünscht, dass die Mutter von allein gemerkt hätte, dass etwas nicht stimmt und mal angehalten und bezogen und freundlich gefragt hätte, was ihr gerade fehlt. Dass sie ihr zugehört, vielleicht das eine oder andere noch nachgefragt und sich dann um eine Lösung bemüht hätte. Die Mutter war dazu leider fast nie in der Lage. Sie konnte das einfach nicht.
Auch viele Jahre später sehnt sich Sarah noch nach so einer ungeteilten Aufmerksamkeit, die ihr jemand schenkt. Ihre Freundin Melanie kann das. Vielleicht ist Melanie auch deshalb zur Freundin von Sarah geworden.
Sarah genießt das Zusammensein mit Melanie, aber ohne es zu merken, lässt sie die positive Intensität der Begegnungen mit Melanie nicht zu. In Prozenten ausgedrückt sind es vielleicht maximal 30 % dessen, was ihr an Intensität möglich wäre. Auch die Zeit in der das Gefühl zugelassen wird, ist beschränkt.
Positives und Negatives sind im Gedächtnis zusammen abgespeichert
Das liegt daran, dass in unserer Psyche die ersehnten guten Erfahrungen zusammen mit dem damals erlebten Mangel abgespeichert sind. Dann, wenn Sarah gerade anfängt, die Aufmerksamkeit von Melanie zu genießen, werden -unbemerkt- auch die Erinnerungen an das alte Leid berührt. Deshalb fährt das Sicherungssystem hoch, um zu verhindern, dass sich das alte Leid wiederholt. Das macht es ganz subtil und in der Regel vollkommen unbemerkt. So als würde es damit ausdrücken: „Ich halte dich jetzt besser davon ab, dich allzu sehr auf das gute Gefühl einzulassen. Weil ich befürchte, dass es gleich genauso wie damals ablaufen wird. Dann erlebst du wieder die große Enttäuschung und dieses schreckliche Gefühl, dass du es nicht wert bist, das zu bekommen, was du so dringend brauchst.“
Für Sarah bedeutet dieser unbewusste Sicherungsmechanismus, dass sie das heilende Potenzial der Begegnungen mit Melanie nicht ausschöpfen kann. Das bedeutet auch, dass ihre seit der Kindheit begonnene Suche nach einer „guten Mutter“ nie ans Ziel findet.
Würde es dieses Sicherungssystem nicht geben, bräuchte kaum ein Mensch noch Psychotherapie! Aber jeder hat so ein Sicherungssystem und es ist umso stärker, je mehr belastende Erfahrungen man in seiner Kindheit machen musste.
So ein Sicherungssystem hat jeder und fatalerweise hält es uns Menschen genau von den positiven Erfahrungen ab, die wir seit unserer Kindheit am meisten vermissen.
Weil jeder andere Erfahrungen gemacht hat, zeigt es sich bei jedem ein bisschen anders. Wer danach sucht, kann es leicht erkennen. Denn es arbeitet mit ganz einfachen Mitteln. So einfach, dass man es schon nicht mehr für einen Trick oder eine Strategie hält, sondern als angemessen und stimmig akzeptiert. Wenn einer die vielen Pflichten als Ausrede vorschiebt, um sich nicht auf einen schönen Moment einzulassen, dann arbeitet hier bereits dieses Schutzsystem. Der ablenkende Gedanke an die anderen „so wichtigen Aufgaben“ reicht oft schon aus. Und wenn man dem nicht nachgibt, findet die Psyche noch andere „Argumente“.
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