„Carpe diem“, nutze den Tag, ist ein Appell daran, sich nicht über Vergangenheit zu beklagen oder auf eine andere Zukunft zu hoffen, sondern den Augenblick zu nutzen. Das Jetzt zu nutzen, weil es der einzige Zugriffspunkt auf das eigene Schicksal ist. Die Vergangenheit kann nicht geändert werden und auch die Zukunft bietet keinen Handlungsspielraum. Die Frage ist, was kann ich jetzt tun, wenn ich unter meiner Vergangenheit leide und meine Zukunft vielleicht genau so sein wird…wenn ich nichts verändere.
Man kann die Vergangenheit nicht einfach beiseiteschieben. Probleme der Gegenwart sind in der Vergangenheit begründet und deshalb darf diese nicht verdrängt, sondern muss verarbeitet werden. Da wir die Vergangenheit selber nicht ändern können, sondern nur ihre Folgen, sind wir schon wieder in der Gegenwart, in der wir diese Folgen merken. Vergangenheit verarbeiten findet also in der Gegenwart statt und hat dabei die Gegenwartsprobleme im Focus. So gesehen ist Vergangenheitsbewältigung etwas sehr konstruktives und zeigt unmittelbar im Jetzt Ergebnisse.
Also müssen wir uns nur um unsere Gegenwartsprobleme kümmern? Tun wir das nicht sowieso schon? Was ist der Unterschied? Der besteht darin, dass wir unsere Gegenwartsprobleme als eine Folge unserer eigenen Geschichte verstehen müssen. Vielen ist dies nicht ansatzweise klar. Sie verstehen ihre Probleme als Pech, Schicksal, Gott gegeben oder „so ist es eben“ und sehen keinen Zusammenhang zur eigenen Person.
Das ist mit unserer Vorstellung von der Welt zu erklären. Wir gehen davon aus, dass diese Welt so ist, wie sie ist und dass unsere Wahrnehmung uns einen Ausschnitt von dieser „Wahrheit“ vermittelt.
Tatsächlich ist die uns als objektiv erscheinende Wirklichkeit in „ Wahrheit von uns selbst erzeugt; wir können die Welt nicht einfach auf direktem Weg bewusst erleben. Sie wird von unserem Gehirn zuerst in neuronale Elementarereignisse zerlegt und dann neu zusammengesetzt. Das so entstandene, extrem verkürzte Bild von der Wirklichkeit ist notwendig, denn ohne es wären wir gar nicht handlungsfähig. Um so schnell zu reagieren, wie das Leben es verlangt, müssen wir – das hat uns die Evolution gelehrt – auf Genauigkeit verzichten. Unsere Blindheit für Details ist also ungemein nützlich“, sagt Udo Boessmann, in einer Zusammenfassung seines Buches Bewusstsein – Unbewusstes. Das im Hirn zusammengesetzte Bild lehnt sich an bereits gemachte Erfahrungen an. Auch dies dient der Vereinfachung. Es kann aber auch zu viel Leid führen, wenn beim Erzeugen der eigenen Wirklichkeitsillusionen Negativerfahrungen der eigenen Geschichte als Vorlage dienen. Doppelt belastend wird das Ganze, wenn das Produkt als die wirkliche Wirklichkeit verstanden wird.
Wer die Eigenbeteiligung nicht kennt, kann die Begebenheiten dann nur als Pech oder Schicksal verstehen und wird damit zum Spielball des Geschehens im eigenen Kopf. Denn wird es nicht unterbrochen, wird es sich immer wiederholen. Mancher merkt mit Glück nach der dritten Beziehung mit ähnlichen Problemen, dass es etwas mit der eigenen Person zu tun hat und nicht einfach nur Pech bei der Partnerwahl war.
Da die Vergangenheit nicht zu ändern ist, muss man in der Gegenwart Erfahrungen suchen, die das bringen, was damals fehlte. Fehlten damals Erfahrungen von Verlässlichkeit, geht es darum diese Qualität in das gegenwärtige Leben zu bringen. Dies ist nicht immer einfach, weil man ja darin geübt ist ohne verlässliche Umgebung zu leben. Das andere muss erst geübt und gelernt werden, aber mit ein bisschen Entschlossenheit ist das machbar. Man fängt zum Beispiel damit an, diesen Gedanken immer wie ein Mantra zu sprechen: Ab heute lerne ich Verlässlichkeit zu entdecken und sie, da wo ich sie finde, auch anzunehmen und zu genießen. Es geht also um bewusstes entdecken und wahrnehmen von Beziehungen auf die man sich vielleicht schon immer verlassen konnte. Darum wahrzunehmen wo sich im eigenen Leben Menschen, Umstände und Bedingungen finden, die Kontinuität bieten. Die dann da sind wenn man sie braucht, denen man also vertrauen kann. Jetzt muss man nur noch eine Weile dranbleiben. Das was die eigenen Eltern nicht geben konnten, wird zur eigenen Aufgabe des Erwachsenen. Fehlt Verlassenheit, dann hilft es auch, sich selbst ein verlässlicher Begleiter zu sein – so etwas wie ein guter Vater oder Mutter. Also für sich zu sorgen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und sich zu lieben, egal wie man gerade drauf ist.
Es braucht ein bisschen Zeit dem eigenen Unbewussten etwas Neues beizubringen. Hier geht es nicht nur um Stunden oder Tage, sondern eher um Wochen oder Monate. Manche brauchen für so ein Vorhaben einen Therapeuten, aber viele könnten es auch allein oder mit Hilfe von Freunden, Bekannten oder Selbsthilfezirkeln schaffen, diesen Schritt zu gehen.
Erwachsene mit Kindern haben hier einen Vorteil. Denn oft geben sie diesen das, was Ihnen selber fehlte. Damit ist diese Qualität schon in ihrem Leben, sie müssen sie nur auch auf sich selbst erweitern. Denn wenn ich meinem Kind verlässliche Liebe gebe, bin ich selber bereits ein Teil dieses Netzwerkes von Verlässlichkeit. Ich muss es mir nur bewusst machen und kann dann sofort ebenfalls davon profitieren. Einzige Hürde: ich muss es mir auch selber wert sein. Aber auch das kann man lernen.
Das obenstehende Foto ist aus http://pixabay.com/de/termin-uhr-countdown-frist-15979/ Vielen Dank an den Fotografen